Vom
Naturobjekt
zum
Kulturgegenstand
Die Handschuhe bestehen aus der sogenannten Muschelseide der Rauen Schinkenmuschel Pinna rudis. Um im Wasser ihren Halt nicht zu verlieren, setzt die Muschel ihren Fuß auf festen Grund und produziert Eiweißmoleküle, die in Berührung mit Wasser erhärten. Dadurch entstehen feine, haftende Fäden, die man in ihrer Gesamtheit als Faserbart oder Byssus bezeichnet. Der Mensch verarbeitet den Byssus zu einem handwerklichen Stoff weiter, indem er ihn reinigt, kämmt und anschließend zwirnt. Die dadurch entstehende Muschelseide hat eine goldene, olivgrüne bis braune Farbe und eignet sich zum Stricken, Sticken und Weben. Von der Antike bis in die Neuzeit kam der Muschelseide durch ihre feine Struktur und aufwendige Herstellung eine enorme Wertigkeit zu. Aufgrund der beschwerlichen Ernte, des geringen Ertrags und des wachsenden Naturschutzgedankens wird der Stoff heute nur noch im sizilianischen Ort Sant’Antìoco verarbeitet.
Präsentation der Handschuhe im Zoologischen Museum der Universität Göttingen
Bildnachweis: Sonja E. Nökel
Muschelseide
Gesäuberte und gekämmte Muschelseide, die anschließend gezwirnt und weiter verarbeitet werden kann.Quelle: https://italoamericano.org/story/2017-10-9/sardinian-seasilk
Faserbart der Rauen Schinkenmuschel
Pinna rudis Linnaeus, 1758
Vermutlich ein Original aus dem Akademischen Museum Göttingen zur Zeit von Johann Friedrich Blumenbach (1752–1840).
Aufschrift: Rohe Muschelseide vom Bart der Steckmuschel Pinna rudis
Zoologisches Museum der Universität Göttingen, Inv. Nr. ZMUG 18625
Edle Steckmuschel Pinna nobilis
Linnaeus, 1758
Eine Edle Steckmuschel in ihrer natürlichen Umgebung und fest mit dem Meeresgrund verankert. Auf die gleiche Weise setzt sich die Pinna rudis L. am Meeresgrund fest.
Quelle: https://kostasladas.blogspot.com/2012/11/pinna-nobilis.html
Fotograf: Kostas Ladas
Natur- oder Kulturobjekt?
Natur und Mensch – ein ambivalentes Verhältnis, welches sich stetig verändert. Versuchen die Menschen auf der einen Seite im Einklang mit der Natur zu leben, so machen sie diese auf der anderen Seite für ihre Zwecke nutzbar. Ein Kulturpessimist würde sagen, dass der Mensch der Natur nicht gut tue und sich als Teil dieser Natur mit seinem Handeln selbst zu Grunde richte. Ein Kulturoptimist würde herausstellen, dass der Mensch sich die Natur zu Diensten mache und sie damit kultiviere oder sogar veredle. Ganz gleich ob Kulturpessimist oder -optimist: Beide Auffassungen lassen die Natur in den Hintergrund treten. Bei beiden Ansätzen wird Natur nicht unabhängig vom Menschen gedacht.
Diese Aneignung von Natur durch den Menschen zeigt sich besonders in materiellen Kulturgütern. Kein Kulturgegenstand wäre ohne Natur sowie ohne die handwerklichen Fertigkeiten des Menschen denkbar. Es braucht sowohl den Menschen als auch die Natur um materielles Kulturgut zu schaffen. Doch wie viel Natur und wie viel Mensch verbirgt sich in der Kultur?
Die Handschuhe aus Muschelseide zeigen, wie die Natur auf den ersten Blick im Kulturobjekt zu verschwinden scheint. Die Verbindung zwischen der Rauen Schinkenmuschel und den Handschuhen wird ohne weitere Erklärung nicht erkennbar. Zugleich bleibt der beschwerliche Weg des Menschen, die Natur zu kultivieren, im Objekt verborgen. Allein die Stofflichkeit der Handschuhe lässt die Natur und die menschlichen Fertigkeiten im Objekt erahnen.
Der Faserbart (Byssus) der Rauen Schinkenmuschel spielt dabei eine wichtige Rolle. In seiner natürlichen Funktion hilft er der Muschel dabei, sich an einem geeigneten Untergrund festzuhalten. Der Byssus gibt der Muschel damit genug Halt, um sich nach oben zu öffnen und Nahrung zu speisen. Schon in der Antike wurde das stoffliche Potential des Faserbartes erkannt und genutzt. Durch Waschen, Kämmen und Zusammenzwirnen ließ sich der Byssus in Muschelseide umwandeln und wird seither zur stofflichen Weiterverarbeitung verwendet. So wurde der Faserbart seiner ursprünglichen Funktion enthoben und in ein veredeltes Material umgewandelt, welches in dieser Form nicht in der Natur existierte. Die Natur wird durch das Einwirken des Menschen folglich in Kultur überführt und in ihrer ursprünglichen Form unkenntlich gemacht. Das Material und die damit einhergehende Wertigkeit sind dabei historisch bedingt und unterliegen menschlichen Eingriffen.
Gegenwärtig ist die kommerzielle Nutzung von Muschelseide kaum noch erlaubt oder rentabel. Durch Naturschutzmaßnahmen und geringe Nachfrage nach dem Material haben die Handschuhe aus Muschelseide primär einen historischen und ästhetischen Wert.
Ihre Ästhetik verweist dabei nicht nur auf den Geschmack einer Zeit, sie gibt zudem Aufschluss über die Nutzung des Kulturgegenstandes. Handschuhe können viele unterschiedliche Verwendungen haben: Sie können Ausdruck von Etikette sein, Schutz vor Kälte bieten sowie der Sicherheit der Hände dienen. Je nach Material und Verarbeitung ist ersichtlich ob Handschuhe als vornehmes Accessoire zur Abendgarderobe, als wärmende Schutzkleidung oder als wichtiger Sicherheitsbestandteil von Berufsbekleidung genutzt werden. Die Handschuhe aus Muschelseide sind durch ihre feine, gestrickte Struktur, ihre Materialwertigkeit und ihre filigrane Verarbeitung eher als repräsentatives Modeaccessoire der gehobenen Schicht, denn als funktionales Kleidungsstück anzusehen. Gleichzeitig stellen Handschuhe aus Muschelseide ein beliebtes Sammlungs- und Ausstellungsobjekt in Wunderkammern, Sammlungen und Museen dar. Der Kulturhistoriker und Bibliothekar, Gustav Friedrich Klemm (1802-1867), beschreibt 1850 eine culturgeschichtliche Sammlung und attestiert ihr den Zweck „die Entstehung und den Fortschritt der verschiedenen menschlichen Gewerbs- und Kunsterzeuge aus den von der Natur im Stein-, Pflanzen- und Thierreiche dargebotenen Stoffen und Gestalten durch Thatsachen und Körper nachzuweisen.“ Dazu gehörte für ihn auch eine „Sammlung von Handschuhen aus seltenen Stoffen, wie Muschelseide“ (Klemm 1850). Das Ausstellen von Muschelseide in Form von Handschuhen, Strümpfen oder Westen nebst Muschelexemplaren bestärkte dabei zum einen den direkten Zusammenhang zwischen Natur und Kultur und zeigte zum anderen, wie menschliche Fertigkeiten in dieses Verhältnis einwirken. Überdies wird durch Klemms Beschreibung deutlich, wie wertvoll die Muschelseide und die aus ihr gefertigten Objekte waren. Der Naturforscher Johann Hieronymus Chemnitz (1730-1800) schreibt zum Beispiel über ein paar Strümpfe aus Muschelseide, die Teil seines Conchyliencabinetts waren, dass diese „an Schönheit und Feinheit den besten seidenen wenig nachgeben, und mit ihrem spielenden unnachahmlichen Goldglanze sie noch übertreffen.“ (Hauber 1782)
Dass ein so feiner Stoff aus der Tiefe des Meeres gewonnen werden konnte und vom Menschen veredelt wurde, beeindruckte die Besucher*innen und Sammler*innen gleichermaßen. Nicht umsonst haftet der Muschelseide bis heute etwas Mystisches und Magisches an, dessen Geheimnis im Meer verborgen zu sein scheint.
Sonja E. Nökel
Quellen- und Literaturverzeichnis:
Hauber, E. C.: Beschreibung der königlich dänischen Residenz-Stadt Kopenhagen und der königlichen Landschlösser, Kopenhagen/Pelt 1782.
Lessing, Hans-Ulrich: Wilhelm Dilthey, Köln u.a. 2011.
Klemm, G. F.: Freundschaftliche Briefe, Leipzig/Teubner 1850.