Reise durch Raum und Zeit
Sie ist weit gereist, um auf diesem Papierbogen
zu landen: Die Pflanze Adenocalymma marginatum stammt aus Paraguay, wo der französische Botaniker und Entdecker Benjamin Balansa sie im Jahr 1876 sammelte. Um sie dauerhaft haltbar zu machen, trocknete er sie und presste sie zwischen Papier und Holzplatten. Per Post gelangten sie dann in die Hände des Göttinger Botaniker August Heinrich Rudolf Grisebach.
Früher wie heute werden Pflanzenpräparate wissenschaftlich beschrieben und dienen als Belege für ihr Vorkommen in meist fernen Gegenden. Ebenso sind sie für die Forschung relevant: Zwischen botanischen Instituten auf der ganzen Welt besteht ein reger Austausch von Präparaten. WissenschaftlerInnen ergänzen die historischen Beschreibungen und verbessern die darauf basierende aktuelle Systematik der Pflanzen. Sie gewinnen auch DNA- Sequenzen aus den Belegen: So lassen sich ihre Verwandtschaftsbeziehungen neu erforschen.
Brasilien, 1817 (ohne Inventarnummer)
Buch „Die Vermessung der Welt“
Kehlmann, Daniel: Die Vermessung der Welt, 1. Aufl., Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2005, private Leihgabe.
Rezension von Kurt Tucholsky
Zwei Auszüge aus der Rezension zu Heinrich Manns Werk „Der Untertan“, die Tucholsky unter seinem Pseudonym Ignaz Wrobel verfasst. Er zitiert Heinrich Mann selbst und bezeichnet dessen Buch in diesem Zusammenhang als „Herbarium des deutschen Mannes“.
Reproduktion, Quelle: Die Weltbühne 1919, Nr. 13, S. 317.
Tassen mit Pflanzenornamenten
Auch auf das Kunsthandwerk hat die Forschung einen Einfluss: Die Gestaltung
moderner Konsumgüter bedient sich der Vorlage historischer wissenschaftlicher Illustrationen.
Zwei Tassen
Glasierte Keramik, 20. Jhd.,
Hersteller: KGG, private Leihgabe.
Neu inventarisierter Herbarbeleg
Scan eines kürzlich inventarisierten Präparats, das 1817 von Prinz Maximilian von Wied-Neuwied in Brasilien gesammelt wurde.
Adenocalymma flavum Mart. ex DC
Reproduktion (Original: 26,6 cm x 47 cm),
Bildnachweis: Herbarium der Universität Göttingen
Raumansicht der Schränke mit den Herbarium der Universität Göttingen
Bildnachweis: Melina Wießler
Herbarien – Zwischen Kunst und Wissenschaft
Wissenschaft und Kunst sind enger miteinander verflochten als man zunächst anzunehmen geneigt ist. Immer wieder fließen die Erkenntnisse der Wissenschaft in ihre künstlerische Darstellung ein; umgekehrt prägt die Kunst unseren Blick auf wissenschaftliche Objekte. Diese Anordnung möchte demonstrieren, dass auch Pflanzenpräparate, sogenannte Herbarien, in einem solchen Beziehungsgeflecht zwischen Kunst und Wissenschaft stehen.
Strenggenommen handelt es sich bei diesem Präparat ‚bloß‘ um etwas Grünzeug auf Papier, knapp 200 Jahre alt; der Materialwert ist kaum höher als das, was am Straßenrand zu finden ist. Trotzdem wird dieses Objekt lichtgeschützt, möglichst trocken und kühl aufbewahrt, ist nur über den Kustos der botanischen Sammlung zugänglich – und wird ausgestellt. Wir messen ihm also sehr viel mehr Wert und Bedeutung bei.
Am Scan einer präparierten Adenocalymma flavum Mart. Ex DC, die neu inventarisiert wurde, ist besonders gut zu sehen, wie das Präparat für die Forschung immer wieder aktuell war und ist. Das zeigen die handschriftlichen und maschinell hergestellten Etiketten unterschiedlicher Epochen. Obwohl es mit seinem Alter auch ein historisch bedeutsames Objekt ist, scheut man nicht davor zurück, daran Veränderungen vorzunehmen, indem man es um sichtbare Informationen ergänzt oder es mit Papierstreifen auf dem Papierbogen fixiert. Der Scan macht deutlich, dass auch die Digitalisierung vor Herbarien nicht Halt macht. Das ausgestellte Herbarium – eine Adenocalymma marginatum – weist weniger solche Spuren auf: Seine Inventarisierung steht noch aus; es befindet sich noch in dem Zustand, in dem Göttinger Botaniker August Grisebach in den 1870er Jahren seinen Stempel auf das Papier setzte.
Dass wissenschaftliche Zeichnungen bis ins Kunsthandwerk vordringen, lässt sich unschwer an den Tassen erkennen, die mit Pflanzenillustrationen geschmückt sind. Deren Geschichte reicht bis ins erste Jahrhundert nach Christus zurück: Der Heilpflanzenkatalog De Materia Medica (1. Jhd. n. Chr.) des römischen Arztes Pedanios Dioscorides ist eines der ersten bebilderten wissenschaftlichen Werke, das Pflanzen systematisch beschreibt. Besonders für Mediziner ist naturkundliche Kunst von großer Bedeutung: Mitunter entscheidet eine richtig erkannte Pflanze über Leben und Tod. Zu den ältesten selbstständigen Pflanzendarstellungen, die noch erhalten sind, zählt Albrecht Dürers Das große Rasenstück (ca. 1503). Es dauert schließlich nahezu 150 Jahre, bis das „goldene Zeitalter der botanischen Kunst“ mit den Illustrationen Maria Sibylla Merians anbricht; es dauert bis ins 19. Jahrhundert an. Ihre Wirkung ist bis heute ungebrochen: Dekorative Pflanzendarstellungen, die etwa mit beigefügten lateinischen Bezeichnungen auf ihren wissenschaftlichen Ursprung verweisen, finden sich auf allen möglichen Gebrauchsgegenständen wie diesen Tassen wieder.
Bisweilen gelingt es wissenschaftlichen Präparaten, in die Welt der literarischen Metaphorik vorzudringen: Unter seinem Pseudonym Ignaz Wrobel rezensiert Kurt Tucholsky Heinrich Manns Der Untertan und verwendet das „Herbarium“ als Metapher: Damit hebt er hervor, dass es Mann darum geht, einen einzelnen Menschen – dessen Charakterzüge, moralischen Vorstellungen und Handlungen – zu beschreiben, der auf eine große Gruppe ähnlicher Menschen beispielhaft verweist. Nach dem gleichen Muster werden auch Pflanzen beschrieben. Wie der Untertan verweist die Adenocalymma marginatum (Cham.) DC als Exemplar auf eine ganze Reihe Pflanzen des gleichen Typs, auf die ihre Beschreibung ebenso zutrifft.
Gleichermaßen kann das botanische Sammeln selbst Gegenstand literarischen Schaffens werden. Daniel Kehlmann literarisiert Alexander von Humboldts Expedition nach Südamerika zwischen 1769 und 1859 in Die Vermessung der Welt. Ebenso unermüdlich wie die literarische Figur Humboldt forscht, sammelt und katalogisiert, hat es auch sein historisches Vorbild getan. Dessen Herbarsammlungen ziehen bis heute wissenschaftliches Interesse auf sich – die Untersuchung der von den Expeditionen nach Europa gelangten Ausbeute ist bis heute nicht abgeschlossen. So wurde ein 2007 vermeintlich neu entdeckter Baum bereits 206 Jahre zuvor von Humboldt als Beleg gesammelt.
Es zeigt sich: Die Beziehungen, die sich zwischen den wissenschaftlichen Präparaten, dekorativen Pflanzendarstellungen und literarischen Repräsentationen ergeben, sind wechselseitig. Wenn wir wissenschaftliche Illustrationen als dekorativen Schmuck und botanisches Sammeln als Abenteuer vermittelt bekommen, ändert sich unser Blick auf das getrocknete Grün auf vergilbtem Papier: Bei verschwimmender Grenze zwischen Wissenschaft und Kunst kann jenes nur an Wert hinzugewinnen.
Quellen:
Magee, Judith: Ars Natura. Meisterwerke großer Naturforscher von Merian bis Haeckel. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 2017.
Rix, Martyn: The Golden Age of Botanical Art. London/Chicago: University of Chicago Press 2013.
Thinard, Florence: Das Herbarium der Entdecker: Humboldt, Darwin & Co. – Botanische Forscher und ihre Reisen. Bern: Haupt 2013.
Eintrag „GRISEBACH, August Heinrich Rudolf 1814 – 1879“ in http://www.uni-goettingen.de/de/index+collectorum/186907.html, 31.08.2018.