EIN MEERESSÄUGER AUF
ABWEGEN
Bei diesem über 17 Meter langen und mehr als 1.200 kg schweren Skelett handelt es sich um die Überreste eines jungen Pottwalbullen. Der Wal strandete im Frühjahr 1998 vor der Nordseehalbinsel Eiderstedt. Mitarbeitende des Zoologischen Instituts Göttingen skelettierten den Kadaver vor Ort und transportierten die Knochen nach Göttingen. Hier befreiten sie die Knochen von Fleischresten, reinigten und trockneten sie. Im Zoologischen Museum wurde das Skelett wieder zusammengesetzt und ausgestellt. Als das Museum im Frühjahr 2018 wegen Umzugs schließen musste, wurde das Skelett demontiert und wird nun erneut einer Reinigung unterzogen.
Aktuell ist eine DNA-Analyse der Knochen geplant. Diese kann durch Vergleiche mit DNA-Proben freilebender Pottwale Hinweise auf die Herkunft des „Göttinger Wals“ liefern.
Videoinstallation: Knochen des Pottwals
(Physeter macrocephalus Linnaeus, 1758)
Nahaufnahmen der Knochen des für den Transport demontierten Skeletts des „Göttinger Wals“. Untermalt mit Aufnahmen von
Pottwalgeräuschen (Biosonar-Klicks) und atmosphärischen Meeresgeräuschen.
Video mit Ton, 3:10 Minuten.
Präsentation des Pottwalskeletts im ehemaligen Zoologischen Museums der Universität Göttingen
Der Abtransport des Pottwalschädels aus dem Zoologischen Museum
der Universität Göttingen
Bildnachweis: Wiebken Nagel.
Walfreiheiten
und Walverwandschaften
Wale sind für menschliche Beobachter nur schwer fassbar: Wanderlustig durchschwimmen sie die Weltmeere, nie ist ihr (wortwörtliches) Auftauchen an einem bestimmten Ort oder zu einem bestimmten Zeitpunkt gesichert. Aber auch wenn sie sich dann kurzzeitig an der Wasseroberfläche bewegen, zeigen sie sich den menschlichen Betrachtern meist nur in Teilen, indem sie mit dem Rücken aus dem Wasser ragen, eine Fluke oder Flosse hervorstrecken, oder ihre Anwesenheit durch die beim Ausatmen erzeugte Wasserfontäne, den Blas, kundtun. Lediglich im Sterben und im Tod bieten sich Wale dem menschlichen Auge in voller Länge und Breite dar: Wenn ihre großen und massigen Leiber nach einer Strandung sterbend oder tot am Ufer liegen – oder aber als Knochenpräparat im Ausstellungssaal eines naturwissenschaftlichen Museums landen.
Auch in Geschichten und Erzählungen neigt der Wal dazu, sich dem Menschen zu entziehen. In der biblischen Erzählung vom Propheten Jona wird dieser von einem von Gott gesandten Wal vor dem Ertrinken gerettet: Jona geht durch unglückliche Zustände (an denen Gott zugegebenermaßen nicht ganz unschuldig ist) während eines Sturms auf offener See von Bord. Während er gen Meeresboden sinkt betet Jona zu Gott (trotz der etwas gestörten Beziehung beider). Daraufhin lässt dieser in deus ex machina-Manier einen Wal auftauchen, welcher Jona verschluckt und ihm drei Tage und drei Nächte lang Asyl in seinem Bauch gewährt. Dann speit der Wal den Propheten am sicheren Ufer wieder aus und schwimmt seiner Wege, um niemals wiederaufzutauchen – weder im Buch Jona noch in irgendeiner anderen biblischen Erzählung.
Auch der berühmteste Wal der Literaturgeschichte, Moby Dick, macht sich im gleichnamigen Roman Herman Melvilles rar. Der hasserfüllte und auf Rache sinnende Kapitän Ahab und die Besatzung seines Walfangschiffes Pequod müssen auf der Suche nach Moby Dick zunächst Nordatlantik, Südatlantik, den Indischen Ozean und den Nordpazifik durchqueren, ehe sie im Südpazifik – und im 133. Kapitel des insgesamt 135 Kapitel umfassenden Romans – auf den berühmt-berüchtigten weißen Wal treffen. Nach einem kurzen und zerstörerischen Aufeinandertreffen von Mensch und Wal entschwindet letzterer spurlos im Meer und lässt den Ich-Erzähler des Buches, den Matrosen Ishmael, als einzigen menschlichen Überlebenden einsam auf den Wellen treibend zurück. Ebenso entschwindet im erfolgreichen Hollywood-Spielfilm Free Willy am Ende der wasserbewohnende Protagonist und Namensgeber des Films. Der in Gefangenschaft eines Vergnügungsparks lebende Orca freundet sich im Verlauf der Filmhandlung mit dem landbewohnenden Protagonisten, einem Jungen namens Jesse, an. Diese Freundschaft findet ihre Erfüllung darin, dass Jesse seinem Walfreund die Rückkehr in die ozeanische Wildnis ermöglicht: Nach einem tränenreichen Abschied (seitens des menschlichen Teils des Freundespaares) und einem spektakulär-ikonischen Sprung in die Freiheit (seitens des tierischen Vertrauten) verschwindet der Wal auf Nimmerwiedersehen in den Weiten des Meeres.
An den genannten Beispielen lassen sich drei verschiedene Beziehungsmuster zwischen Mensch und Wal ablesen: Der Wal als unergründlicher Meeresbewohner riesenhaften Ausmaßes kann dem Menschen als mythisches Wesen mit Nähe zum Göttlich-Übernatürlichen erscheinen, von welchem er sich Rettung und Hilfe erwünscht – neben der Erzählung vom Propheten Jona seien hier auch unzählige käuflich erwerbbare Audio-Sampler mit Walgesängen genannt, welche den Hörenden Erholung, Geistesklarheit und sogar Heilung versprechen. Der mit zu seiner Körpergröße passenden Kraft und Schnelligkeit ausgestattete Wal, der zuweilen unvermittelt aus den Fluten des Meeres auftaucht, kann auf den Menschen aber auch wie eine Manifestation der Kraft der Natur wirken – insbesondere, wenn es wie in Moby Dick zu zerstörerischen Begegnungen zwischen Wal und Mensch kommt. Aber da es auch nicht-destruktive Begegnungen zwischen Mensch und Meeressäuger gibt, in welchen beidseitige Beobachtung und Interaktion zu einem gewissen gegenseitigen Verständnis führen (oder menschlicherseits zu führen scheinen), erkennen nicht wenige Menschen Wale auch als ihnen mental und emotional nahestehende Intelligenzwesen, als Freunde und Partner an – wie Jesse seinen Orca-Freund in Free Willy.
Diese Vielfalt der Wal-Mensch-Verhältnisse mag nicht zuletzt auch in der Diversität der gemeinhin als Wal bezeichneten Wesen begründet liegen. Trotzdem werden häufig alle Arten von Walen über einen Kamm geschoren: Man denke nur an den Slogan „Rettet die Wale“, einen der frühesten populären Schlachtrufe des Umwelt- und Naturschutzes, welcher eben nicht auf eine bestimmte Gattung oder Familie gemünzt ist, sondern alle Angehörigen der Ordnung der Wale einschließt. Beim Wort „Wal“ imaginieren Menschen oft riesige und intelligente Meeresbewohner, die in wohlklingendem Singsang miteinander kommunizieren, einträchtig in Familienverbänden leben und sich gemeinsam um ihren Nachwuchs kümmern. Und trotz – oder gerade aufgrund – seines freundlichen Verhaltens ist dieser Ideal-Wal vom Aussterben bedroht. Aber dieser Vorstellung liegt kein real existierender Meeressäuger zu Grunde – in ihr vereinen sich die Eigenschaften diverser Walarten, zum Beispiel die Singkunst der Buckelwale, die gemeinsame Aufzucht von Jungtieren einiger Delfinarten und die enorme Körpergröße der seltenen Blauwale. Auch wenn dieses positiv gefärbte Idealbild den Walen durchaus zugutekommt, wenn es die sympathisierenden Menschen dazu veranlasst, sich für den Walschutz zu engagieren, kann es nicht schaden sich hin und wieder einem walischen Individuum zu zuwenden, sich über dessen Wesensmerkmale und Lebensumstände zu informieren, sein Schicksal nach zu vollziehen – zum Beispiel beim Betrachten eines Pottwalskeletts im Rahmen des Besuchs eines zoologischen Museums.
Wiebken Nagel
Quellen:
Herman Melville (1851): Moby Dick; or, The Whale. New York.
Deutsche Bibelgesellschaft (Hrsg.) (1980): Das Buch Jona. In: Die Bibel. Einheitsübersetzung.
Online unter: https://www.die-bibel.de/bibeln/online-bibeln/einheitsuebersetzung/bibeltext/bibel/text/lesen/stelle/32/10001/19999/.
Arne Kalland (1993): Management by Totemization: Whale Symbolism and the Anti-Whaling Campaign. In: Arctic 46/2, S. 124-133.
Simon Wincer (Regie) und Keith A. Walker (Drehbuch) (1993): Free Willy. Warner Bros. Pictures.
François Garde (2016): Das Lachen der Wale. Eine ozeanische Reise. München.